Ich werde alt. Mit 26 Jahren hatte ich meinen ersten
Migräne-Anfall vor einer Woche. Das war nicht schön. Weiße Pünktchen tanzten
vor meinen Augen, mein Sehfeld war eingeschränkt, Kopfschmerzen nagten wie
Schraubzwingen an meinen Schläfen und ich hätte fast in die
Kantinen-Tomatensuppe gekotzt. Nach einer Schmerztablette und drei Stunden
sinnlos am Schreibtisch sitzen und leise stöhnen, war der Spuk wieder vorbei
und ich konnte weiterarbeiten.
Doch es gibt auch schöne Seiten am Älterwerden: So langsam
habe ich das Gefühl, schrullige Routinen zu entwickeln, die mir gut gefallen. So höre
ich nach der Arbeit beim Kochen eigentlich nur noch NDR Kultur oder MDR Figaro,
weil mich alles andere zu sehr stresst, ich aber merke, dass ich bei Schubert
und Konsorten richtig schön abschalten kann, wenn ich in der ein oder anderen
Soße meditativ rühre, den Blasen beim Blubbern zuschaue und Salz durch meine Finger hineinrieseln lasse.
Außerdem merke ich, wie gut mir Sport tut - das hat
irgendwie auch mit dem Erwachsenwerden zu tun, das zu erkennen und vor allem anzuwenden. Wenn man freiwillig um 7.30 Uhr
aufsteht, um ins Fitnessstudio zu fahren, wo man dann eine Stunde mit
Hausfrauen beim Aerobic schwitzt und anschließend zur Arbeit fährt, um dann
abends nochmal eine Runde im Prinzenpark zu laufen (nicht am selben, sondern
Folgetag wohlgemerkt).
Und Entscheidungen fälle ich momentan, die mein Leben immens
verändern werden, aber dazu später.
Ja, in letzter Zeit ist viel passiert und ganz viel ist
nicht passiert. In dieser schönen Wohnung gibt es seit Anfang April weder
Internet noch Telefon. Schon allein das wäre einen Eintrag wert, aber ich
möchte mich heute nicht mehr ärgern, sondern hoffe, dass der luschige
Internetsick, den wir zur Überbrückung bekommen haben, wenigstens diesen
kleinen Beitrag ins Netz schickt.
Was ist passiert:
- ich war Pilgern (ich bin von Königslutter nach
Riddagshausen in zehn Stunden zu Fuß gegangen und habe dabei mal nachdenkend 20
Minuten geschwiegen, mal mit meinen Pilgerfreunden diskutiert, mal Laudate
omnes Gentes gesungen)
- ich habe Gregory Porter live in Wolfsburg gesehen und mit
ihm anschließend ein Bier getrunken
- ich bin von vorne nach hinten umgezogen und bereue es
nicht
- ich habe zum ersten Mal Nudeln selbstgemacht und am
Folgetag gleich zum zweiten Mal
- ich habe mir ein Prägegerät zugelegt und meine Küche
umsortiert und neu gestaltet
- ich war zwischendurch sehr traurig und bin momentan sehr
glücklich
- ich konnte heute zum ersten Mal meine Zehen bei
ausgestreckten Beinen mit den Fingerspitzen berühren (Strike)
- ich bin ohne Training fünf Kilometer am Stück gelaufen
- ich bin nun eine echte Trauzeugin
- ich fahre allein zum Hurricane als Festival-Reporter
- ich bin Joker bei Wer wird Millionär im Sommer
- ich fliege im November nach Peking
Ja. Und Freitag werden meine Augen gelasert in Hamburg. Ich
bin dann nicht mehr Bernie Blindmann, ich bin dann Adi Adlerauge. Hoffentlich.
Ich bin so aufgeregt. Seit einer Woche trinke ich keinen Alkohol, ich rauche
nicht mehr so kurz vor der Operation, ich habe sogar auf Himmelfahrt verzichtet
- das erste Mal. Ich bin nervös, aber ich versuche das erfolgreich bis Freitag,
12 Uhr, zu verdrängen. Ich ziehe das jetzt durch und ich habe Angst, aber ich
habe mich dafür entschieden und nun wird es durchgezogen.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für mich bedeutet.
Dieser Schritt wird mein Leben verändern, mein Leben ist geprägt vom
Nicht-Sehen, vom Brilletragen, von geäderten Augen. Ihr könnt es euch wirklich
nicht vorstellen. Denn ihr wisst nicht, wie es ist, morgens aufzuwachen und
nichts zu sehen. Ihr wisst nicht, wie es ist, wenn man das Gesicht des Mannes
ertasten muss für den Gute-Nacht-Kuss, ihr wisst nicht, wie es ist, ein
verschwommenes Gesicht zu schminken und ihr wisst nicht, wie es ist, wenn jeden
Tag irgendjemand nachfragt, ob alles gut sei, weil man so kaputt aussieht. Ihr
könnt es euch nicht vorstellen und das ist auch gut so. Ich wünsche so eine -8
Dioptrie-Fehlsichtigkeit niemandem und ich bin froh, dass ich dieses Kapitel
Freitag beenden werde und ich hoffe, dass alles gut gehen wird.
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